Zur Ehrenrettung: Bis zu diesem Tag war Keramik für mich belächeltes Kunsthandwerk, betrieben von Menschen, denen das Motiv zur Verbesserung von Mitteleuropa fehlt und die diesen Mangel natürlich nicht durch Tassen, Becher, Obstschalen und Blumenvasen ausgleichen können. Das war vor kurzem noch die Meinung eines Künstlers, der zwar Sehnsucht nach sehr gutem Design (!) hat, dieses, in aller niederrheinischen Vermessenheit, der Keramik, und schon gar nicht der deutschen, zutraute. Keramik war bis dato Manufaktum. Renée hat dieses – Asche auf mein Haupt – falsche Tonbild radikal verändert. Die Ausstellung im Hause Berger zeigt dies, nein, beweist dies, auch anderen Artgenossen, die sich lustvoll einlassen, mit aller Macht.

Wer neugierig ist, sollte auch leiden können. Denn auf die Lobeshymne ob dieses gewaltigen Oeuvres, per Mail, am gleichen Tag noch, nach Halle an der Saale gebrüllt, folgte zunächst das heute übliche Schweigen. Doch Renée wäre nicht die Keramikerin die sie ist, also warf sie dann nach einigen Wochen, oder waren es nur Tage?, einen Klumpen Ton von Ost nach West, an den Niederrhein, mitten in meine Werkstatt. Meine Begeisterung war so intensiv angekommen, dass Renée schon den Kollegen erforscht hatte und sich auch wegen dessen Kunst nun fröhlich offenbarte. Zunächst mehr floskelig als im fachkundigen Dialog. Begeisterung hat manchmal Sprachlosigkeit als Zwillingsschwester. Die immer spannendere Kommunikation, hübsch beim „Sie“ und sehr respektvoll im Umgang mit dem Werk, führte zwangsläufig zum ersten Telefonat und dem Wunsch, sich doch kennenzulernen, am Objekt der Begierde, nämlich der jeweiligen Kunst. Da der Niederrhein und Halle keine Nachbarn sind, sondern durch gut 500 km getrennt, stellte sich die Frage, wo man sich denn, auf halben Wege treffen könnte. Heute ist der Ursprung nicht mehr nachzuvollziehen, doch es entwickelte sich die Vision, dass das erste Kennenlernen eigentlich nur auf einem kargen zugigen Bahnsteig sein könnte, und das am besten auf einem so unsäglich hässlichen wie in Hildesheim. Auch diese Idee war der Kanne aus Steinzeug verdammt ähnlich, vielleicht sogar geschuldet.

Natürlich wurde es nicht der Bahnsteig von Hildesheim, sondern der Bahnsteig von Xanten. Allerdings erst, nachdem ich etliche der Keramiken von Renée mit dem Hämmerchen bearbeitet und sie in ihrer Botschaft verändert hatte. Warum? Ganz simpel: Im Dialog entwickelte sich so etwas wie Sehnsucht, kreativ zusammenzuarbeiten. Renée schlug vor, eine grosse Kiste mit keramischem Krempel zu schicken, also voll mit Stücken, die ihre Gnade nicht gefunden hatten. Gesagt, getan, beinahe. Denn als die Teile hier eintrafen und ich sie in Händen hielt, musste ich mich mehrmals, sogar leidenschaftlich, rückversichern, ob diese Keramik tatsächlich „Schrott“ sei. Heute weiss ich es: Sie waren in den jeweiligen Aggregatzuständen tatsächlich Schrott, zum Teil auch defekt. Ich waltete sofort meines bescheidenen wie kollegialen Amtes und setzte den Schalen, Fischen, Pötten und Booten mächtig zu. Einige Ergebnisse sind in der Ausstellung zu sehen. Auf die Frage, ob wir Niederrheiner immer so brutal direkt seien, gab es die Antwort, dass Joseph Beuys immer noch waltet und nun ein Kennenlernen unumgänglich sei, eben, auf dem Bahnsteig von Xanten. Uns trieb auch eine andere Erkenntnis: Renée und ich sind Zwillinge, und zum ersten Male mussten wir über das Zwillingsdasein nichts berichten, weil es fast deckungsgleich ist. Diese Tatsache hat den Wunsch nach Zusammenarbeit sehr beschleunigt. Für Einlinge mag das unverständlich sein. Darum gibt es nun Zwillingsboote und Zwillingsfische.

Diese Vorgeschichte macht es dem Besucher dieser Seite und dem Besucher der Ausstellung etwas leichter, die gezeigten Arbeiten emotional zu erleben. Mein Umgang mit der Keramik von Renée hat als Erstes die Erkenntnis gebracht, dass sie vielleicht gar keine Keramikerin ist, sondern Bildhauerin, die sich des Handwerks der Keramik bedient. Mit dieser Einsicht konnte ich mit meiner laienhaften Vorstellung dem Aspekt „Kunsthandwerk“ endlich Adieu sagen. Denn alles, was mir bis zu diesen Tagen als respektiertes Kunsthandwerk erschien, war zu einer sehr mächtigen Kunstform geworden. Das hat allerdings dazu geführt, dass ich nun mit konservativer Keramik, und sei sie noch so meisterhaft, noch weniger anfangen kann. Jene hat sich, es lebe die Vermessenheit, tatsächlich in die Nische des noblen Designs verkrümelt. Dies lässt sich in vielen Sammlungen nachvollziehen, in denen Renée vertreten ist. Gestern gab es ein munteres Telefonat, in dem Renée erzählte, dass ein Sammler angerufen hat, der vor Jahren bei ihr zwei „Wandvasen“ kaufte. Nun hätte er auch gerne ein Boot aus Keramik, oder einen Stoßzahn. Renée konnte sich zunächst nicht erinnern, weil sie niemals "Wandvasen" gemacht hat, niemals. Bis es dämmerte. Jener begeisterte Sammler hatte zwei "Wand-Engel" erworben. Also Engel, die vom vermeintlichen Frieden künden sollen und wahrlich keine Vasen sind, es sei denn für Strohblumen.

Diese amüsante Geschichte zeigt, wie missverständlich mit Keramik umgegangen werden kann. Das im Ergebnis positive Beispiel soll nicht zur Pauschale werden, sondern zeigen, wie Sie, verehrter Leser mit der Keramik von Renée umgehen sollten, eben, kommunikativ. Die Keramik von Renée hat so große narrative Qualitäten, dass kein Dialog zwischen Ost und West vermieden werden sollte. An dieser Stelle ihr meisterhaftes Handwerk mit andächtigen Worten zu würdigen erübrigt sich für mich. Denn ohne Renées Meisterschaft ließen sich viele ihrer Stücke gar nicht bauen. Basta.

Ihre Keramik öffnet, bei entsprechender Fantasie, völlig neue Welten, und dies hemmungslos und ohne Kompromisse. Wieder ein aktuelles Erlebnis. In dem großen Konvolut an Arbeiten meldete sich ein „Auspuff“, ja, ein knatternder röhrender Auspuff zu Wort. Dieses Teil weckte in mir Assoziationen von Landpartien in einem Rolls-Royce Cabrio, mildes Sommerwetter, eine wunderschöne Begleitung. Da, die perfekte Blumenwiese für ein Picknick im Freien (Genau, dieses Bild von Eduard Manet „Frühstück im Freien“ mit der nackten Dame, während die Herren noch grübeln). Passend für den ersten Schluck, Johann, bitte den Champagner öffnen.

Dieses knüsselige Stück Keramik hat bei mir, dem Anti-Romantiker, diese Geschichte hervorgerufen, verknüpft mit der Idee, diese Illusion vielleicht doch eines Tages umzusetzen. (Verfügt jemand über einen solchen Wagen?) Wer sich mit bewußter Naivität auf die Arbeiten von Renée einlässt, wird viele dieser Träume erleben. Um dies zu erreichen, ist es nicht erforderlich, Fachmann in Sachen Keramik zu sein, der nicht nur alles versteht, sondern auch alles erklären kann. Es reicht völlig aus, sich staunend dieser Handschrift aus Ton hinzugeben. Es wäre angenehm, wenn sich der dann infizierte Denker auch zur Inbesitznahme, zum Beispiel eines Talismans, hinreißen ließe. Wer einmal ein Stück renéescher Keramik in der Hand hielt, kann sich nur schwer dieser Hand- und Hirnschmeichlerei entziehen. Dass für dieses Erleben ein gewisses Maß an kultureller Leidenschaft von nöten ist, ergibt sich aus den Geschichten, die das tägliche Leben so spielt, zum Beispiel an der Arbeit "Richtplatz".

Diese Stück war vor Jahren, 1997, im Westerwald Museum, Höhr-Grenzhausen, ausgestellt. Zufällig war Renée an diesem Tag anwesend: Ein älterer Herr stand zunächst vor dieser Arbeit „Ohne Titel“. Es fand wohl ein intensiver Dialog zwischen dem Stück und dem Betrachter statt. Er ging auf Renée zu fragte vorsichtig, ob dieses Teil einen Titel habe, denn es gefiele sehr gut. Auf das Nein antwortete jener Gentleman: "Das ist ein Richtplatz, also mein Richtplatz…"

Damit war der Titel dieser Arbeit geboren: Richtplatz. Der Nachteil ist, dass dieser Titel nun die Arbeit bestimmt, oder? Jeder der will, und das zeichnet die Arbeit von Renée Reichbach aus, kann aus ihren Objekten Erinnerung und Zukunft schöpfen, auf einfachstem Weg in der Theorie, etwas schwieriger in der Umsetzung. Sich einfach emotional, fast gedankenlos, auf die Stücke einlassen und sich der Wirkung, wie bei jenem Auspuff, hingeben. Diese Ausstellung hat vielleicht, hoffentlich, die Kraft, um „der Keramik“ weitere kreative Impulse zu geben, insbesondere den zukünftigen Menschen an der Drehscheibe, die Keramik meinen, allerdings Design denken. Das kann die Perspektive der Keramik nicht sein. In aller Bescheidenheit, die Schnittstelle zwischen Kunst und Kunsthandwerk könnte mit dieser Ausstellung beflügelt werden. Weg vom Aufwand, hin zum kommunikativen Ergebnis. Das nicht zwingend ein „Teepott“ sein muss, sondern auch Inhalt sein darf. Auch für Keramik gilt dieser Satz von Gerhard Richter: Ein Bild, das ich begreife, langweilt mich.

Die Arbeiten von Renée, natürlich auch die Modifikationen, die in diesem Dialog entstanden sind, werden genau dies nicht schaffen, nämlich zu langweilen. Gut, es gibt sie noch, jene Ignoranten, denen nur Spektakuläres recht ist und die ihr Leben nur über den Preis bestimmen. Wer davon aus Leidenschaft weit entfernt ist, kann mit dem Werk von Renée Reichenbach neue Impulse erleben. Das ist auch der Grund, warum Thomas Berger diese Ausstellung ermöglicht, aus Leidenschaft und der Gewissheit, dass der Umgang mit den Stücken von René Reichenbach über die Freude auch die Gesundheit fördert. Obwohl es von ihr keine Schalen gibt.

 

Jürgen Vogdt, Kurator der Ausstellung und Modifikationspartner, Labbeck im März 2012

 

 


Zurück