Renée Reichenbach – Keramik

 

In einem Vortrag zitiert Renée Reichenbach aus einem Brief Rainer Maria Rilkes an seine Frau: „Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des in einer Erfahrung bis-ans-Ende-gegangen seins … Je weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto einziger wird ja ein Erlebnis, und das Kunstding endlich ist die notwendige ununterdrückbare, möglichst endgültige Aussprache dieser Einzigkeit.“

Es verwundert nicht, dass Renée Reichenbach diese Aussage gefunden und notiert hat, bringt sie doch das Selbstverständnis der Künstlerin, welche konsequent ihre künstlerischen Ziele verfolgt, exakt zum Ausdruck. Renée Reichenbach erschafft dabei uns vorher unbekannte Dinge, denen ein großes Selbstverständnis eigen ist, die Würde ausstrahlen und berühren.

Verfolgt man über die Jahre Renée Reichenbachs Schaffen, so erstaunt es, wie die Künstlerin sich gleichermaßen künstlerisch treu bleibt und dabei doch wandelt. In logischer Konsequenz entwickeln sich ihre Themengruppen: Landschaften und Gärten, Boote, Tempel und Schreine, Artefakte, aber auch Tiere. In jahrelanger, kontinuierlicher Arbeit erschuf Renée Reichenbach eine ganz einzigartige, nämlich ihre persönliche Welt - unverwechselbar in Thematik und Formensprache, umgesetzt mittels der von ihr entwickelten Arbeitstechnik, bei der Form und Dekor untrennbar miteinander verschmelzen und sich gegenseitig bedingen.

Renée Reichenbach baut ihre Objekte aus Platten, die sie montiert und mit modellierten Teilen kombiniert. Auf einen zur Fläche ausgewalzten, grob schamottierten Ton trägt die Künstlerin – gleich einem Malgrund – eine dünne Schicht grau gefärbten Tones auf. In diesen werden wie bei einer Intarsienarbeit unzählige hauchdünn ausgewalzte Schnipsel eingefärbten Porzellans oder verschiedenfarbiger Tone eingearbeitet. So entstehen auf der großen Tonplatte Flächen (zumeist Drei- oder Vierecke) und Flecken mit klaren oder malerisch ausgefransten Rändern. Scharfe, schwarze Ritzlinien sorgen dafür, dass die Rhythmen bei aller Nuanciertheit spannungsvoll und markant bleiben.

Verwendete die Künstlerin früher eine Vielzahl von kontrastierenden Tönen, beschränkt sie sich in den letzten Jahren auf einige wenige zurückhaltende Farben, um den Gesamteindruck eines Objekts ruhiger zu halten. Kombiniert werden zumeist rotbraune mit schwarzen Tönen, hellgelbe mit grauen oder weiße mit hellgrauen und Ocker-Tönen. Dunkelgraue, fast schwarze Flächen setzen immer wieder kräftige Kontraste, stellenweise akzentuiert eine transparente oder weiße Glasur die Farben, vereinzelt leuchtet ein Flecken Blau oder Grün.

Mit Hilfe eines Messers oder einer Nadel wird die flächig-farbige Komposition geritzt und mittels Drahtgeflechten zart geprägt. Abdrücke bzw. Reste von Nägeln wirken mit ihren rauen Rändern wie die kräftigen Linien einer Radierung. Die Objekte bestechen durch ihre feine Nuancierung der Farbtöne ebenso wie durch ihre artifizielle Strukturierung der Oberflächen.

Die farbliche und haptische Differenziertheit der Reichenbachschen Werke, die immer weiter perfektioniert wurde, ist beeindruckend und sucht ihresgleichen. Sie gründet – so scheint mir – auch in der Lebenserfahrung der Künstlerin, welche die Schönheit gerade auch im Unscheinbaren erkennt, da sie dem Glatten und Perfekten misstraut. Die Schönheit der unzähligen Details ist anrührend: Die verschwimmende Glasur, die abgeschliffene Farbe, der kühne Schwung einer Form, die über eine Schnittstelle von zwei Teilen hinweg gezogene Glasur, die eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Querschnitten schafft. Allesamt Details, die von dem Anspruch an Vollkommenheit zeugen und Reichtum sowie Lebendigkeit der Objekte ausmachen.

Aus diesen aufwendig bearbeiteten Tonplatten schneidet die Künstlerin Segmente, welche sie für das jeweilige Objekt benötigt. Für ihre Landschaften und Gärten, die sich aus podestartigen eckigen Schalen und Tabletts entwickelten, geht sie von einer viereckigen Grundfläche aus. Angeregt von deren Struktur entscheidet sich Renée Reichenbach für Aufbauten, Einschnitte, Stufen und Vertiefungen, Mauern und Wände (geschwungen oder gerade), bricht dahinein wieder Öffnungen, die ins dunkle Innere führen.

So entwickelte die Künstlerin ihre einzigartige keramische Praxis, in der die plastische Formung und die farbliche Gestaltung der Fläche derart zwingend ineinander greifen, dass sie sich fortwährend gegenseitig beeinflussen. Dabei ergeben sich neue Ordnungen und Proportionen. Es ist der Versuch, Farben und Formen einem gemeinsamen, möglichst selbstverständlichen Rhythmus unterzuordnen. Dieser Prozess des Komponierens ist erst abgeschlossen, wenn sich die einzelnen Teile zu einem harmonischen Ganzen fügen, wenn sich bei der Künstlerin das Gefühl der Befriedigung einstellt, wenn – so Renée Reichenbach – das Objekt tatsächlich ganz im Sinne von Rilkes Zitat „etwas Zwingendes“ bekommen hat.

Eine bedeutende Werkgruppe bilden die menschenleeren Landschaften und Gärten, welche von dem grundsätzlich architektonischen Verständnis der Künstlerin zeugen. Eigentlich für die horizontale Präsentation gedacht, können sie aber auch vertikal wie abstrakte Gemälde betrachtet werden – ausbalanciert in Farbe und Form überzeugen sie mit ihrer formalen Geschlossenheit. Die Gärten, bei denen die Wandung das tiefer gelegene Innere schützt, rufen Assoziationen an italienische Gärten wach, an Plätze oder Terrassen mit Mauern und Stufen, aber auch an aztekische Tempelruinen oder Ausgrabungsfelder. Den Gegenpol dazu bilden ihre an Siedlungen oder Ruinen erinnernden Landschaften – Plateaus en miniature, die durch ihre höhere Lage von der Außenwelt abgeschlossen und geschützt werden.

Die äußerst nuancierte Farbigkeit der Gärten und Landschaften bringt die ihnen ganz eigene Stimmung hervor. Die Kombination von Gelb-, Weiß- und Grautönen kann entspannte Heiterkeit bewirken, die Farbskala zwischen Dunkelrot und Schwarz unheimliche Spannung hervorrufen. Aber auch Anderes ist vorstellbar: Glühend heiß strahlt die Sonne auf die karge Landschaft, deren Gelb von vereinzelten grauen und schwarzen Schatten durchbrochen wird. Man kann die Dramatik, ja Explosivität einer Spannung spüren, die sich jeden Moment entladen kann. Die Menschen haben sich in ihre kühlen Behausungen zurückgezogen, um sich nicht nur vor der Hitze, sondern auch vor den kommenden Ereignissen zu schützen. Dagegen erscheinen nun wieder die schwarz-roten Landschaften und Gärten geradezu friedlich: Es dunkelt, in der rot-grauen Abenddämmerung blitzen noch einzelne blaue Fetzen auf. Ebenso zwiespältige Empfindungen lösen die vereinzelten Öffnungen aus: Aber unabhängig davon, ob sie als schützend oder als unbehaglich empfunden werden, in jedem Fall erhöhen sie die Spannung des Geschehens. Den Landschaften ist eine Vielschichtigkeit eigen, die weit über das hier Beschriebene hinausgeht. Lässt man sich wirklich auf sie ein, dann spürt man, dass man sich in diesen Landschaften bewegen und sie immer wieder neu erleben kann. Es sind kunstvoll gebaute Bühnenbilder, in denen sich das menschliche Schicksal in all seinen Facetten vollziehen kann. Insofern sind diese Landschaften weit davon entfernt, menschenleer zu sein, denn sie können Kulisse für fiktive Begebenheiten und als solche Spiegel unserer eigenen Gefühle sein. Es sind Seelenlandschaften der Künstlerin, die wir zu den unseren machen können.

Diese besondere Fähigkeit Renée Reichenbachs, bewusst mit der Spannung, die sich aus assoziativer Vieldeutigkeit ergibt, zu arbeiten, ist auch ein Charakteristikum ihrer Boote. Unter diesem schlichten Oberbegriff firmieren Wasserfahrzeuge aller Art: schlanke Einbäume und Nachen ebenso wie prachtvolle Schiffe, manche schmal und schnittig, andere breit und behäbig. Gerade bei einigen der großen Exemplare kommt eine Vielzahl von Assoziationen auf, nicht nur an unterschiedlichste Schiffe aus Holz oder Metall, sondern auch an merkwürdige, nie gesehene Wasserlebewesen, an futuristische Architekturentwürfe oder an Wracks, deren vergangener Ruhm sich noch erahnen lässt. Es sind zum Teil ganz eigenartige Gefährte darunter, von denen manche den Eindruck erwecken, sich auf unterschiedlichste Art in Bewegung setzen zu können - durchaus nicht nur schwimmend. Renée Reichenbach erschafft nie gesehene Wesen und gibt ihnen ein gleichzeitig vertraut und fremd erscheinendes Eigenleben.

Schiffen und Booten ist seit jeher ein hoher Symbolwert eigen: für das Unterwegs-Sein in jeglicher Hinsicht, für Übergangssituationen. Die Menschen halten sich auf Schiffen zumeist nur anlässlich einer Reise für begrenzte Zeit auf: Man begibt sich in die unbekannte Ferne oder kehrt in die vertraute Heimat zurück. Man ist noch nicht angekommen. Schiffe stehen für die plötzlichen Wechselfälle des Lebens und nicht ohne Grund sind so viele Geschichten auf einem Schiff angesiedelt: Mit unbekannten Menschen für kurze Zeit ohne Flucht-Möglichkeit den engen Raum teilend, entladen sich plötzlich Hoffnungen und Wünsche der Reisenden ebenso wie ihre Enttäuschungen. Das Wissen, dass man sich später höchstwahrscheinlich nie wieder begegnen wird, ermöglicht schlagartig Nähe und Intimität. Das Schiff ist eines der zentralen Symbole unserer Kultur und so eröffnet Renée Reichenbach, die uns mit jedem von ihr geschaffenen Boot etwas von ihrer Lebensreise mitteilt, einen weiten Raum von Gedankenspielen und Vorstellungen.

Auslöser für die Entwicklung eines neuen Themas, dem sich Renée Reichenbach neben den Landschaften und Gärten seitdem mit Hingabe widmet, war der Aufenthalt 2008 in Japan, zu dessen Keramik sich Parallelen in der künstlerischen Haltung auftun. Dabei handelt es sich weniger um die japanische Keramik selbst, weil sich die Künstlerin – bei allem Respekt davor – doch eher zur Keramik anderer Kulturen, sei es Kretas, Mexikos oder des Neolithikums hingezogen fühlt. Vielmehr sind es Parallelen in der Eigenart des Arbeitens und der Ästhetik von strenger Kargheit und Perfektion, bei der mit einfachsten Mitteln Exklusivität erzeugt wird. Renée Reichenbach arbeitet sehr lange und mit Bedacht an ihren Objekten, sie stellt nicht in schneller Abfolge Masse her, von der einzelne Stücke ihrem Anspruch mal mehr, mal weniger genügen. Ähnlich den japanischen Kalligraphen geht sie mit Konzentration an die Arbeit und dem Anspruch, dass das Begonnene gelingen muss.

Aus dieser längst überfälligen Begegnung mit der traditionellen japanischen Kultur, die mühsam unter der dominanten Moderne aufgespürt werden musste, erwuchsen Bekräftigung ebenso wie neue Themen. Den neuen Eindrücken als auch der zeitlichen und räumlichen Begrenztheit der Arbeitsmöglichkeiten ist die Arbeit an der neuen Werkgruppe geschuldet, die dennoch logisch an ihre bisheriges Oeuvre anknüpft: Schwertähnliche Artefakte, zusammengesetzt aus unterschiedlichen Teilstücken: kurze und lange, dicke und dünne, offene und geschlossene, im Querschnitt kreisrund, oval, vier- oder fünfeckig. Hier offenbart sich spielerische Freude, mit der Renée Reichenbach schöne Formen herstellt, deren elegante Schwünge einmal mehr an Schwerter und Schwertzierate, schmale Fische und Boote oder an geschwungene asiatische Dachgiebel denken lassen. Nebeneinander gelegt, lassen sie den Betrachter staunen, wie viele Arten einer geschwungenen Kontur es gibt. Es sind souverän beherrschte, phantasievolle, kleine Proportionsübungen, mittels derer uns die Künstlerin leichthändig die unendlichen Möglichkeiten, mit einfachsten Mitteln Mannigfaltigkeit herzustellen, vor Augen führt.

Dies gelingt Renée Reichenbach einmal mehr bei ihren Spielsteinen, die ebenso wie die Artefakte Zeugnis davon ablegen, wie souverän die Künstlerin auch die kleine Form beherrscht. Spielerisch greift sie hier ihr gesamtes Formenrepertoire auf, variiert und kombiniert lustvoll die unendlich viele Möglichkeiten. Wie eine Zauberin produziert Renée Reichenbach Vielfalt und ruft unterschiedlichste Assoziation hervor: Kleine Gebäude und Industriearchitektur sowie Miniaturgärten. Daneben glaubt man winzige Kraftwerke, Schiffe und Schreibzeuge, aber auch vereinzelte Figuren oder sich auf Felsen ausruhende Seelöwen zu entdecken. Hier offenbaren sich Humor und Witz, welcher der zarten Frau, die zumeist monumentale Landschaften, Gärten, ja selbst Tische und Säulen schafft, eigen ist. Die Lebendigkeit der Spielsteine ist ansteckend, sie erwecken Heiterkeit und Staunen gleichermaßen: Wie kann man solche herrlichen kleinen Schwünge herstellen? Es sind keine klassischen Spielsteine, sondern sie sind Ergebnis von Renée Reichenbachs Spiel mit Keramik: Preziosen von großer Leichtigkeit, die vom Können, Form- und Feingefühl, von der Phantasie ihrer Schöpferin künden. Renée Reichenbach reicht die scheinbar kleine Aufgabe, ein äußerst geringer Raum, um zu zeigen, was allein hier schon einer wahren Künstlerin möglich ist.

In Weiterentwicklung ihrer geschwungenen Formen entstehen seit einigen Wochen nun große, kräftige Hörner und Stoßzähne, die an Aufnahmen von Ausgrabungen oder an naturhistorische Sammlungen denken lassen. Auch hier wieder offenbart sich Renée Reichenbachs Interesse für die Vorzeit. Diese Affinität lässt aber auch Raum für Interpretationen, die über das Dargestellte hinausreichen: Zuallererst imaginiert man die unbändige Kraft, die ihren fiktiven Trägern eigen war, stellt sich die Tiere in ihrer Bewegung und – bei aller Größe – in ihrer Anmut vor: Stiere, Widder, aber auch Elefanten und Mammute in ihrer ganzen Pracht, mit ihrer Stärke, die sich vor allem im Kampf zeigt. Dies erweckt zwangsläufig den Wunsch, von den Kräften der Tiere, die sich in deren Hörnern und Stoßzähnen manifestieren, möge auf magische Weise etwas auf uns übergehen.

So banal es klingen mag: Renée Reichenbach erschafft Dinge, die es ohne sie nicht geben würde. Dinge, welche eine selbstverständliche Schönheit und elegante Würde ausstrahlen; Dinge, welche uns anrühren in ihrer Schönheit und die man – hat man sie einmal kennen gelernt –, vermissen würde, gäbe es sie nicht. Ihre Objekte sind vergleichbar mit Essenzen oder Destillaten: Im Laufe des zeitintensiven Arbeitsprozesses an ihnen verdichtet sich nicht nur die Form, sondern auch der Gehalt und es wird Substanzielles wahrnehmbar.

Renée Reichenbach ist eine Plastikerin, die mittels Ton Kunstwerke erschafft, welche in ihrer Vielschichtigkeit Erzählungen oder Dramen vergleichbar sind. Den von ihr geschaffenen Objekten ist eine quasi natürliche Monumentalität eigen und sie rufen ein breites Spektrum an Stimmungen hervor. Wie eine Dichterin erzählt die Künstlerin ihre Geschichten und eröffnet der Phantasie des Betrachters einen neuen, weiten Raum. Es ist die logische Konsequenz ihres Anspruchs an sich selbst, begleitet von einer seltenen Sensibilität. Kontinuität und Konsequenz kennzeichnen den Entstehungsprozess ihres Werks, das sich durch eine ungewöhnliche künstlerische Souveränität und Glaubwürdigkeit auszeichnet. Die im Laufe der Jahre immer weiter vervollkommnete Bearbeitung von Form und Oberfläche ist Ausdruck eines Reifungsprozesses: Renée Reichenbach macht bei ihrer Arbeit keine künstlerischen Zugeständnisse, ihre Kunst hat etwas Zwingendes und das Festhalten daran offenbart einen gesunden Eigensinn. – Diese Erkenntnis hat durchaus etwas Befreiendes.

Dr. Kristina Bake