Niederrheinischer Realismus
Fotographie von Jochen Weigelt
Ein Versuch, nicht der Wahrheit, sondern der Realität gerecht zu werden.
Jochen Weigelt, Weselaner, ist kein Fotograph, sondern ein Seher. Er erlebt die Wahrheit, fast täglich, und stellt fest, daß diese weit von der Realität entfernt ist. Mit diesem Wissen macht er seine Fotos und fügt ab und an etwas von seiner Realität hinzu. Auf diese subjektive Realität möge der Betrachter achten.
“Alles, was Du auf der Straße siehst, ist ein Geschenk.
Fotograph Jorel Meyerowitz, USA,
aktuelle Ausstellung NRW Forum Düseldorf.
Seit gut drei Jahren arbeiten Jochen Weigelt und ich zusammen. Unser erklärtes Ziel war (und ist) diese Ausstellung. Aus heute unerfindlichem Grund bat ich Gisela und Jochen Weigelt, die Keramik von Renée Reichenbach zu fotografieren. Für den Internetauftritt dieser sehr erfolgreichen Ausstellung in Bergers Licht-Werk. In Keramikkreisen hat sich eine fast devote Fotographie breitgemacht. Die Namen jener „Fotographen“ sind immer größer und gewichtiger dargestellt als der Namen der Künstlerin; in den Fotos herrscht eine gekünselte Atmosphäre, als ob jede Keramik beliebig und damit völlig uninteressant ist. Diesen Status galt es bei den Keramiken von Renée Reichenbach zu vermeiden. Folglich, ich wußte, Gisela und Jochen Weigelt besitzen Fotoapparate, bekamen diese Querseher den Auftrag, diese wundersamen Stücke zu fotographieren. Das Ergebnis spricht für die außergewöhnlichen, sensiblen Betrachtungsweisen von Gisela und Jochen Weigelt.
In diesem Prozeß erfuhr ich von den anderen Seher-Qualitäten, über die Jochen Weigelt, mit imposanter Handschrift, verfügt. Natürlich mußte erst gequengelt werden, um andere Ergebnisse zu sehen. Da den Niederrheinischen Realismen auch ein gehöriges Maß Druck gehört, blieb die Offenbarung nicht aus. Weigelt ließ kritische Blicke auf seine Fotos zu. Eines der ersten Fotos, das mich sprachlos machte, war das Foto der Fassade eines Möbelhauses in Oberhausen. Mein Fotowissen wurde gelinde auf den Kopf gestellt, und ich wußte nicht einmal warum. Dieses Foto hat eine seltsame, verschwiegene narrative Qualität. Es deutet von irgendeinem Elend, obwohl von diesem nichts zu sehen ist. Es zeigt, daß die Realität dieses Fotos nicht der Wahrheit vor Ort entspricht. Welche Details für diese optische Schilderung verantwortlich sind, hat sich bis heute nicht erschlossen. Wohl das Gefühl, daß hinter diesem, eigentlich banalem Foto, eine andere Absicht steckt, die meine Bewunderung verlangt. Wer Jochen Weigelt nach dieser Absicht befragt, erhält als Antwort maximal ein Schulter-zucken. Dieses „anonyme“ Foto war vor langer Zeit der Auslöser für diese Ausstellung, das Ja von Thomas Berger entsprechend konsequent.
Das nächste Foto, mit dramatischem Licht, das mich ins Staunen zwang, zeigt die Baustelle der Rheinbrücke Wesel. Ein wahres lapidares Meisterwerk, natürlich in aller Bescheidenheit durch die Windschutzscheibe, während der Fahrt, geknipst. Zu diesen beiden einmaligen Werken gesellten sich schnell andere Fotos, die mir diese unverwechselbare Handschrift regelrecht ins Auge und ins Wissen um andere Fotographie drückte. Da sitzt ein älterer Herr in seinem motorisierten Rollator und fährt in die Garage. Elend vom Feinsten. Auf einem einsamen Balkon hängt eine Vuvuzela herum, mehr nicht. Kein Mensch ist zu sehen. Allerdings zeugen die Attribute auf den anderen Balkons von einem anderen Elend. Auch dieses Foto, hervorragend als Titelbild für einen Kriminalroman geeignet, ist niederrheinischer Realismus. Diese drei Bilder waren der Anlaß, Jochen Weigelt nun heftig herauszufordern. Das ist gelungen. In konstruktiver Diskussion bei der Betrachtung und Auswahl von über tausend Fotos.
Die Dualität der Ereignisse zeigen die Fotos, die Jochen Weigelt in einem vor dem Abbruch stehenden Bauernhof machte. Diese Fotos von abstrakten Hieroglyphen, von fremder Hand auf die Wand geschmiert, sind harte Hinweise auf jenen Realismus, der oft und zurecht als „Besserwisserei“ mißverstanden wird. Auch von mir. Es gibt da einen Werbeslogan, der da lautet „So geht Technik!.“ Weigelt hat mir gezeigt „So geht Malerei (auch)!“. Natürlich sind diese Fotos von Belehrung oder Dünkel befreit. Doch dank des Sehens von Jochen Weigelt haben diese Fotos etwas malerisch Endgültiges, von dem man erfährt, daß dieses Endgültige niemals bewußt zu schaffen ist. Und wenn überhaupt, dann nur im Zustand von Naivität und Gedankenlosigkeit, im positivsten Sinne dieser Begriffe. Ein anderes meisterhaftes Foto, es zeigt Teerspuren an einer Wand, hat Thomas Berger als bessere Malerei bezeichnet. Dieses Foto war dann der zwingende Anlaß, diese Ausstellung nun voranzutreiben; und das Werk von Jochen Weigelt noch kritischer zu betrachten. Es sei erwähnt, daß der Autor dieser Zeilen abstrakte Bilder malt, Zwillinge jener gefundenen Objekte.
Jochen Weigelt ist auch ein Meister der Blendung. In der Ausstellung befinden sich etliche Arbeiten, in denen der Grad der Manipulation nicht mehr zu erkennen ist. Es gibt Motive, die nach Manipulation schreien, doch gänzlich ohne Eingriff sind. Dann gibt es Selbstverständlichkeiten, die allerdings nur ansatzweise „selbstverständlich“ sind. Jochen Weigelt hat entschieden, daß diese Unterschiede „eigentlich“ nicht relevant sind, weil nur das Ergebnis zählt, und nicht der Weg dorthin. Zeitgeist bedeutet auch Eingriff. Folglich beantwortet sich an dieser Stelle die Frage, was denn nun „Niederrheinischer Realismus“ ist. Genau das, was in dieser einmaligen Ausstellung gezeigt wird. Sogar losgelöst von der Vergangenheit dieses begnadeten Sehers. Nur dieses in diese Richtung: Jochen Weigelt hatte Zahnschmerz, besuchte zu Fuß den Zahnarzt und ging, geheilt, zu Fuß nach Hause zurück. Vom Zahnschmerz befreit, entdeckte er die Welt seiner zukünftigen Fotographie. Von diesem Zeitpunkt an doku-mentierte er stur die weigeltschen Niederrheinischen Realismen. Manche Fotos erschließen sich erst in Gänze in der Kombination mit dem Titel. Die Titel sind keine Beschreibung der Fotos, sondern deren intellektuelle Ergänzung, immer bestimmt von wildem Witz. Wer mehr über die Fotos von Jochen Weigelt erfahren will, sollte Eines tun: Sehr genau hinschauen und einfach keine Fragen stellen; und anschließend das ein oder andere Foto als philosophischen Wegweiser erwerben.
Weil das Werk von Jochen Weigelt, trotz junger Jahre, opulent ist, haben wir die Petersurger Hängung für diese Ausstellung in Bergers LichtWerk gewählt. Eine Bevorzugung einzelner Fotos wäre in dieser LichtWerk-Ausstellung von Jochen Weigelt ungerecht.
Oktober 2014, Jürgen Vogdt